Heute starte ich mit der drastischen Aussage: Glaube nicht alles, was du denkst. Und werde gleich den Beweis dazu erbringen:
Meine demente Mutter hat mir beim letzten Besuch diesen Beweis gezeigt. Es war ein wirklich bewegender Moment für mich, den ich hier teilen möchte.
Wie so oft bei meinen Besuchen kramen wir die Fotoalben raus und schauen uns an, was wir als Familie gemeinsam unternommen haben. Die Bilder sind immer die gleichen, die Geschichten dazu auch. Aber es macht trotzdem Spaß, durchzublättern. Leider kommt von meiner Mutter immer mehr der Spruch: Ach, kann ich mich gerade nicht dran erinnern.
Diesmal schien es wieder die gleiche Prozedur zu werden.
Album auf den Tisch, durchblättern und die gleichen Geschichten erzählen. Bei einer Seite im Album gibt es allerdings eine Geschichte, die mein Vater nicht gerne hört. Es gibt ein Bild von meiner Mutter am Meer in schönster Abendstimmung. Sie hat ein wunderbares langes Kleid in kräftigen orange- und rot Tönen an, um die Schulter eine dunkelblaue, sehr leichte Stola (die sie selbst gehäkelt hat). Diese Stola weht im Wind und meine Mutter schaut leicht zu Boden. Also keines dieser „gestellten“ Bilder, sondern eine Aufnahme, die so leicht und natürlich wirkt.
Immer wenn die Seite mit diesem Bild aufgeschlagen wird, kam von ihr die gleiche Geschichte und Anklage an meinen Vater: Siehst du, da bist du wieder so ungeduldig gewesen. Du hast es nicht abwarten können, bis ich mich richtig hinstelle. Schade um das Bild. Mein Vater seufzt nur, erträgt den Vorwurf und blättert weiter.
Diesmal war es anders.
Sie schaut auf das Bild und sagt: „Schau, so eine „lieabe“ Aufnahme, wo war das denn?“
Mein Vater und ich schauen uns an, haben Tränen in den Augen. Jetzt, wo durch die Demenz die Gedankenwelt verschwindet, kann sie die Schönheit in diesem Bild und in sich selbst sehen. 55 Jahre lang hat sie den vermeintlichen Fehler meines Vaters gesehen. 55 Jahre lang hat sie selbst geglaubt, was sie in diesem Augenblick gedacht hat. Und erst jetzt, nachdem die Gedankenwelt sich immer mehr reduziert, kann Sie den Zauber dieses Augenblicks sehen.
Seit dieser Situation frage ich mich selbst immer wieder:
Wo kann ich die Schönheit in mir selbst nicht sehen, nicht anerkennen. Wo habe ich selbst meinen Blick durch Bewertung und Erwartung so verschleiert, dass mir der Zauber des Augenblicks verloren geht. Ehrlich: Viel zu oft und meist überall. Aber ich bin jetzt vorsichtiger geworden, aufmerksamer mir selbst gegenüber.
Das Leben ist kurz, um all das zu glauben, was ich denke.
Wie geht es dir mit deiner Gedankenwelt? Hörst du genau hin? Ich weiß, es braucht Übung, nicht auf jeden Gedankensturm in dir reinzufallen.